Das Herz des Christseins

So sehr Edith Stein der Wissenschaft verpflichtet war, eines war ihr klar geworden: Das Herz des Christseins ist nicht Wissenschaft, sondern Liebe. Sie sagt: "Die schrankenlose liebende Hingabe an Gott und die göttliche Gegengabe, die volle und dauernde Vereinigung, das ist die höchste Erhebung des Herzens, die uns erreichbar ist, die höchste Stufe des Gebetes. Die Seelen, die sie erreicht hahen, sind wahrhaft das Herz der Kirche." Mit diesen Worten, in denen wir Teresa von Avila wiedererkennen, läßt uns Edith Stein einen Blick in ihr Innerstes tun. Aus dem Gebet holte sie auch die Kraft, ein Arbeitspensum zu bewältigen, das ihrer Umgebung ein Rätsel auferlegte. Gefragt, wie sie das alles schaffe, gab sie zur Antwort: "Es kommt nur darauf an, daß man zunächst einmal in der Tat einen stillen Winkel hat, in dem man mit Gott so verkehren kann, als ob es sonst überhaupt nichts gäbe, und das täglich. Das Gegebene scheinen mir die Morgenstunden, ehe die Tagesarbeit beginnt; ferner, daß man seine besondere Mission dort bekommt, am besten auch für jeden Tag und nicht selbst wählt, schließlich daß man sich ganz und gar als Werkzeug betrachtet und speziell die Kräfte, mit denen man besonders stark arbeiten muß, als etwas, was wir nicht brauchen, sondern Gott in uns."

Am 17. September 1927 traf Edith Stein ein schwerer Schlag. Generalvikar Schwind, ihr geistlicher Vater, bei dem sie wie ein Kind des Hauses aus-und einging, war während des Beichthörens im Dom von einem Schlaganfall getroffen worden und tot zusammengesunken. Prälat Schwind, der ihr Innerstes kannte, hatte ihr einmal gesagt, nach seinem Tode werde ihr Kreuzweg beginnen. Das Kreuz, dem Edith Stein zehn Jahre vorher bei Frau Reinach zum erstenmal begegnet war, gewinnt immer mehr Gestalt. Im Gebet läßt Gott sie ahnen, welchen Weg er sie führen will, den Weg des Kreuzes. Am Sonntag Septuagesima 1930 schreibt sie: "Nach jeder Begegnung (gemeint ist die Begegnung mit Gott im Gebet), in der mir die Ohnmacht direkter Beeinflussung fühlhar wird, verschärft sich in mir die Dringlichkeit des eigenen holocaustum."

Durch Vermittlung von Pater Przywara übernimmt Erzabt Raphael Walzer die geistliche Leitung Edith Steins. In der Karwoche 1928 fährt sie zum erstenmal nach Beuron, wo sie in der Folgezeit immer wieder gern stille Einkehr hält. Augenzeugen wissen zu berichten, wie Edith Stein oft stundenlang vor dem Bild der Beuroner Schmerzensmutter gebetet hat, ebenso, daß sie den ganzen Karfreitag ohne jede Nahrungsaufnahme betend in der Kirche verharrte. Am jüdischen Versöhnungstag geboren, war ihr nun der christliche Versöhnungstag, da Gott im Kreuz seines Sohnes die Welt mit sich versöhnte, ein besonders heiliger Tag.

In kindlicher Offenheit vertraute sie sich dem Erzabt in den Fragen ihres geistlichen Lebens an. Er berichtet: "Wir waren beide eifrige Vertreter einer problemlosen Frömmigkeit. Sie war außerordentlich einfach, eine ganz klare, durchsichtige Seele, sehr geschmeidig, jedem Hauch der Gnade nachzugeben, ohne einen Schatten von Ängstlichkeit . . . Sie war ganz losgelöst, lange bevor sie in den Karmel eintrat, ganz in Gott versenkt . . . Was in ihr vorherrschte, war ihre Ruhe, ihr Friede."

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