I. Die ersten Lebensjahre

Edith und ihre Schwester ErnaDer Vater: Siegfried Stein, Jude, Holzhändler, 48 Jahre. Die Mutter: Auguste Courant, Jüdin, 43 Jahre. Brüder und Schwestern: Paul, 19 Jahre; Else, 17 Jahre; Arno, 12 Jahre; Frieda, 10 Jahre; Rosa, 8 Jahre; Erna, 2 Jahre. Dies ist die Familie, in die die kleine Edith hineingeboren wird.

Als elftes Kind der Familie ist sie die Siebte, die am Leben bleibt - vier Kinder sind bereits in jungen Jahren gestorben. Ihre Geburtsstadt ist Breslau, damals deutsch, heute polnisch: Wroclaw. Die Familie ist jüdisch: Edith fühlt sich immer ganz als Jüdin und ganz als Deutsche.

Am Tag ihrer Geburt feiern die Juden im Jahr 1891 gerade das Fest Yom Kippur, den Versöhnungstag. "Meine Mutter hat auf diese Tatsache großen Wert gelegt", sagt Edith in ihrer Autobiographie, "und ich glaube, daß dies mehr als alles andere dazu beigetragen hat, ihr ihr jüngstes Kind besonders teuer zu machen" (VII, 42).

 

"Im Inneren diese verborgene Welt"

Obwohl Edith ihre Mutter sehr liebt, öffnet sie sich ihr nicht wirklich. "Trotz dieser innigen Verbundenheit war meine Mutter nicht meine Vertraute" (VII, 42). Dies ist ein für die Familie typisches Merkmal: "Meine Mutter hat manchmal gesagt, jedes ihrer Kinder gebe ihr besondere Rätsel auf" (VII, 19).

In scharfsinniger Selbstbeobachtung (VII, 42-44) zeigt Edith ihre Entwicklung in ihrer Kindheit auf. "Ich machte für den äußeren Betrachter unbegreifliche, sprunghafte Umwandlungen durch. In den ersten Lebensjahren war ich von einer quecksilbrigen Lebhaftigkeit, immer in Bewegung, übersprudelnd von drolligen Einfällen, keck und naseweis, dabei unbezähmbar eigenwillig und zornig, wenn etwas gegen meinen Willen ging...

Aber in meinem Inneren gab es noch eine verborgene Welt. Was ich am Tag sah und hörte, das wurde dort verarbeitet. Der Anblick eines Betrunkenen konnte mich tage- und nächtelang verfolgen und quälen. ... Es blieb mir immer unbegreiflich, wie man über so etwas lachen konnte, und ich habe in meiner Studentenzeit angefangen, ohne einer Organisation beizutreten oder ein Gelübde abzulegen, jeden Tropfen Alkohol zu meiden, um nicht durch eigene Schuld etwas von meiner Geistesfreiheit und Menschenwürde zu verlieren. Wenn in meiner Gegenwart von einer Mordtat gesprochen wurde, lag ich nachts stundenlang wach, und das Grauen kroch aus allen dunklen Ecken auf mich zu. Ja, ein etwas derber Ausdruck, den meine Mutter in meiner Gegenwart erregt aussprach, schmerzte mich so, daß ich die kleine Szene (eine Auseinandersetzung mit meinem Bruder) nie vergessen konnte. Von all diesen Dingen, an denen ich heimlich litt, sagte ich niemandem je ein Wort. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß man über so etwas sprechen könnte."

Im Alter von etwa sieben Jahren vollzieht sich in Edith eine bemerkenswerte Verwandlung, "die Vernunft" beginnt in ihr die Herrschaft zu übernehmen. Sie wird gehorsam, bittet sofort um Verzeihung, wenn sie eine grobe Antwort gegeben hat ("obwohl mich das jedesmal die größte Überwindung kostete"). "Zornesausbrüche kamen kaum noch vor; ich erreichte schon früh eine so große Selbstbeherrschung, daß ich fast ohne Kampf eine gleichmäßige Ruhe bewahren konnte. Wie das geschah, weiß ich nicht; ich glaube aber, daß der Abscheu und die Scham, die ich bei Zornesausbrüchen anderer empfand, das lebhafte Gefühl für die Würdelosigkeit eines solchen Sich-gehen-lassens mich geheilt haben. Allmählich wurde es auch in der inneren Welt lichter und klarer" (VII, 44).

Von nun an ist in Edith alles mehr und mehr der Vernunft unterworfen: Jegliche Ausgelassenheit und Spontaneität werden häufig in den Hintergrund gedrängt, und Edith kapselt sich ab in Verschwiegenheit, Selbstkontrolle und Ernsthaftigkeit.

 

"Gut sein", aber ohne Gott

Edith ist erst eineinhalb Jahre alt, als plötzlich und unerwartet ihr Papa stirbt. Man könnte sich die Frage stellen, ob nicht dieses Fehlen eines Vaters in Edith die Ernsthaftigkeit, die sie später umgibt, verstärkt hat.

Frau Stein führt den Holzhandel erfolgreich weiter. Edith hat zweifellos etwas von der Disziplin und der Energie ihrer Mutter geerbt. Obwohl diese eine überzeugte und praktizierende Jüdin ist, schafft sie es dennoch nicht, ihrer jüngsten Tochter den Geist der Religion zu vermitteln, die eine lebendige Beziehung - des Glaubens und der Liebe - mit Gott ist.

Edith scheint im Glauben ihrer Mutter nur eine Treue zum Ritus gesehen zu haben. Andererseits trichtert die Mutter ihr für ihr ganzes Leben "den Abscheu vor der Sünde" ein: "Wenn die Mutter sagte: Das ist Sünde, so wußten alle, daß sie damit den Inbegriff des Häßlichen und Menschenunwürdigen bezeichnen wollte" (T, 22).

Mit sechs Jahren geht Edith in die Viktoria-Schule. Sie ist fast immer die Beste ihrer Klasse, und alle bemerken ihren Ehrgeiz und ihre Intelligenz. Doch Edith ist traurig, weil die Menschen nicht verstehen, was sie im Innersten bewegt. "Die ganze große Verwandtschaft nannte mich die -kluge‘ Edith. Das schmerzte mich sehr, weil ich herauszuhören glaubte, daß ich mir auf meine Klugheit etwas einbildete; außerdem schien mir darin zu liegen, daß ich -nur‘ klug sei; und ich wußte doch von den ersten Lebensjahren an, daß es viel wichtiger sei, gut zu sein als klug" (VII, 86).

Im Alter von zehn Jahren wird das junge Mädchen mit dem Tod konfrontiert, mit dem grausamen, Verzweiflung auslösenden Tod. Zunächst stirbt ein Onkel mütterlicherseits durch Selbstmord. "Es herrschte eine schreckliche Aufregung in der ganzen Familie; wir Kinder sollten nichts Näheres erfahren, aber allmählich sickerte es doch zu uns durch, daß er sich erschossen hatte" (VII, 49).

Es ist die erste Beerdigung, die Edith miterlebt. Die Zeremonie erscheint ihr inhaltslos, "dahinter stand kein Glaube an ein persönliches Fortleben und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Als ich viele Jahre später zum erstenmal einem katholischen Leichenbegängnis beiwohnte, machte mir der Gegensatz einen tiefen Eindruck"

(VII, 50). Ein Jahr später begeht ein anderer Onkel von Edith, ein Bruder ihres Vaters, ebenfalls Selbstmord.

Im Alter von vierzehneinhalb Jahren hat Edith keine Lust mehr, weiter in die Schule zu gehen. Später erklärt sie, daß dieses Desinteresse "zum Teil wohl daran lag, daß mich mancherlei Fragen, vor allem weltanschauliche, zu beschäftigen begannen, von denen in der Schule wenig die Rede war. Hauptsächlich ist es aber wohl durch die körperliche Entwicklung zu erklären, die sich vorbereitete" (VII, 83).

Mit Zustimmung ihrer Mutter verläßt sie Breslau und fährt nach Hamburg, wo ihre älteste Schwester Else lebt, die dort mit dem Dermatologen Max Gordon verheiratet ist. Edith schreibt in ihrer Autobiographie: "Die Zeit in Hamburg kommt mir, wenn ich jetzt darauf zurückblicke, wie eine Art Puppenstadium vor. Ich war auf einen sehr engen Kreis eingeschränkt und lebte noch viel ausschließlicher in meiner inneren Welt als zu Hause. Soviel die häusliche Arbeit es erlaubte, las ich. Ich hörte und las auch manches, was mir nicht guttat. Durch das Spezialfach meines Schwagers kamen manche Bücher ins Haus, die nicht gerade für ein Mädchen von 15 Jahren berechnet waren. Außerdem waren Max und Else völlig ungläubig, Religion gab es in diesem Hause überhaupt nicht. Hier habe ich mir auch das Beten ganz bewußt und aus freien Stücken abgewöhnt" (VII, 90-91). Edith hat "ihren Kinderglauben verloren" (VII, 83).

So lebt sie viele Jahre als Atheistin. Gott ist tot für sie, und sie ist tot für Gott. In dieser Zeit vertritt sie genau das Gegenteil der Überzeugung, die sie dann später so charakterisiert: Gott ist lebendig und nahe, ein Gott der Beziehung, ein Gott, der Gott ist.

Die "Stein" und ihre Schätze

Die zehn Monate in Hamburg erscheinen Edith später als eine Zeit, in der sie "im Verhältnis zu früher und später geistig etwas dumpfer war. Aber körperlich entwickelte ich mich rasch und kräftig; das schmächtige Kind entfaltete sich zu fast frauenhafter Fülle; da außerdem die blonden Haare stark nachdunkelten, erkannte man mich in Breslau nach der Rückkehr kaum wieder" (VII, 92).

Edith hat sich entschlossen, ihre Studien wiederaufzunehmen, und zwar am Gymnasium von Breslau: Deutsch, Latein, Mathematik, Französisch, Englisch, Geschichte...

Sie ist diszipliniert, fleißig und genau - eine brillante Schülerin. Einer ihrer Professoren erklärt in einer höheren Klasse: "In der Klasse unter Ihnen kommt erst Fräulein Stein, dann kommt ein großer Abstand und dann kommen die übrigen" (VII, 102).

Die Jahre am Gymnasium sind für sie "eine glückliche Zeit" und das Lernen "wie ein Spiel" (VII, 109). Literatur, Musik, Theater, Oper, Diskussionen ohne Ende mit den Mitschülern: Edith genießt alles. Schon kann man in ihr eine eigenständige Denkerin erkennen. In Anspielung auf ihren Namen "Stein" meint der Direktor des Gymnasiums: "Schlag an den Stein und Schätze springen hervor" (VII, 115).

 

Psychologie an der Universität von Breslau

Edith ist jetzt neunzehneinhalb Jahre. Sie inskribiert an der Universität von Breslau und wählt dabei verschiedene Studienrichtungen: Deutsch, Geschichte und Philosophie, vor allem aber Psychologie - ein Fach, in dem sie die einzige Studentin ist.

In all diesen Jahren ist sie "immer völlig frisch und gesund" (VII, 142). "Die ständige Anspannung aller Kräfte erweckte das beglückende Gefühl eines hochgesteigerten Lebens, ich erschien mir als ein reiches und bevorzugtes Geschöpf" (VII, 145).

Ihre Umgebung erinnert sich an die ruhige Leidenschaftlichkeit, mit der sie für die Rechte der Frau eintritt. Gern besucht sie auch pädagogische Institute.

An freien Tagen und während der Ferien machen die Studenten gemeinsam lange Ausflüge aufs Land oder in die Berge, die manchmal mehrere Tage dauern.

Edith lernt Hans Biberstein kennen, der sich in ihre Schwester Erna verliebt hat, die er später auch heiratet. "Er gefiel mir gleich sehr gut, wie er da auf dem Tennisplatz mir gegenüberstand. Er spielte mit Leidenschaft, und es konnte ihn in gelinde Verzweiflung bringen, wenn ich mit stoischer Ruhe einem Ball nachsah, den ich nach meiner Berechnung doch nicht kriegen konnte" (VII, 66).

 

Der Vogel ist berufen zum Fliegen

"Vier Semester hatte ich an der Universität Breslau studiert. Ich hatte am Leben dieser alma mater wie wohl nur wenige Studenten teilgenommen, und es mochte scheinen, als sei ich so mit ihr verwachsen, daß ich mich nicht freiwillig von ihr trennen würde. Aber hier wie später noch oft im Leben konnte ich die festesten Bande mit einer leichten Bewegung abstreifen und davonfliegen wie ein Vogel, der der Schlinge entronnen ist" (VII, 146).

Diese Zeilen schreibt Edith zwanzig Jahre später, nach einer Reihe von Entscheidungen, die ihr Leben beeinflußt und verändert haben. Niemals bleibt sie beim Alten stehen, wenn das Neue es wert ist, daß man ihm nachgeht. "Die Entschlüsse stiegen aus einer mir selbst unbekannten Tiefe empor. Wenn so etwas einmal ins helle Licht des Bewußtseins getreten war und feste gedankliche Form angenommen hatte, dann ließ ich mich durch nichts mehr aufhalten; ja, ich hatte eine Art sportliches Vergnügen daran, scheinbar Unmögliches durchzusetzen" (VII, 94).

Eine Entscheidung dieser Art reift in ihrem zweiten Jahr an der Universität Breslau heran. Von der Psychologie, die dort gelehrt wird, ist sie enttäuscht. Ihrem Gefühl nach bietet ihr diese erst in Entwicklung befindliche Wissenschaft keine ausreichend solide Grundlage, mit fest etablierten und klaren Prinzipien. Doch wo kann sie etwas Besseres finden?

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